WG93 – Briefentwurf an Alma Mahler
Berlin, Dienstag, 1. November 1910

Leb wol mein Engel, lebe wol u bleibe
\Dir auch ohne/ Nähe u Gegenwart ist Nahrung
der Liebe

 Ein Brief nimmt viel
und lange bis ein anderer
wieder giebt

 Die Sehnsucht nach
körperlicher Verschmelzung

 In meiner Seele regt sich
kein Gedanke, kein Gefühl
in meiner Brust, das
ich Dir nicht mitteilen dürfte

 Wenn ich das große
Bilderbuch dieses Sommers
aufschlage

 Von den 25 Wochen unserer
Trennung sind erst zwei ver-
flossen und sie dünken mich
schon eine Ewigkeit. Freilich
es sind die schlimmsten, da
sie ohne ein Wort von Dir
vergehen mußten.

Keine flüchtigen Stimmungen
die den andern erregen wollen
wir vermeiden, der Weg von Brief
zu Brief ist zu weit

Detektiv.

___________
Gestern Abend war Dr P mit mir
bei meinen Eltern, daß er von
uns nichts ahnt, bewies mir
seine Frage in Gegenwart meiner
Mutter, ob ich wüßte etwas
von oder über Euch gehört hatte.
Er hatte gestern in der Zeitung
gelesen, daß auf dem
Wege nach NY sei und sich
bereit erklärt hätte schon in
nächster Saison an der Wiener
Oper zu dirigieren

 Es tut wehe garnichts zu
wissen von dem, was uns
über alles am Herzen liegt.

 Laß uns hoffen und vom
Strom der Zeit erwarten, daß
er uns nach Klippen u Wüsten
endlich auch einmal durch
schöneren Gefilden zuführe.

Deine Briefe sind mir eine

unerschöpfliche Freude, ich lese
darin allabendlich im Bett

 Schreibe mir immer und ehrlich
wie es Dir geht. es wäre unrecht, wenn
Du mir etwas verheimlichst, wie
neulich die Blinddarmreitzung.

17 Soeben habe ich mit
10  zu Abend
13 gegessen. Stelle Dir vor
11 wie mir zu Mute wurde
14 als sie zufällig von
14 ihrem Leben in Wien
11 von u dessen

____ schöner u reizender
90  erzählte.

 Danach ist die Sehnsucht

 wieder orkanartig über
mich gekommen u ich habe
die halbe Nacht


Apparat

Überlieferung

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Quellenbeschreibung

3 Bl. (3 b. S.) – Papierbogen.

Druck

Erstveröffentlichung.

Korrespondenzstellen

Beantwortet durch AM47 vom 16. und 17. November 1910 (Lola Be[e]th übrigens war nie unsre Freundin – sie ist eine zu dumme Person): Soeben habe ich mit Lola Be[e]th zu Abend gegessen.

Datierung

Ein Hinweis zur Datierung dieses Entwurfes ist WGs Aussage von den 25 Wochen unserer Trennung sind erst zwei verflossen. Das Datum der Trennung, also der Abschied in Paris, lässt sich auf den 19. Oktober 1910 festlegen, da AM an jenem Tag zur Überfahrt in die USA weiterreiste (s. Themenkommentar: Die getrennten Anreisen zur Überfahrt nach New York 1910). Auf den Tag genau zwei Wochen nach der Trennung wäre der 2. November 1910. Ferner datierte die erwähnte Zeitung von gestern entweder auf den 31. Oktober oder 1. November. Auf der von WG angelegten Liste seiner abgesendeten Briefe (WG92) ist schließlich der 1. November als Absendedatum des 5. Briefes vermerkt, wobei dieser direkt an AMs Hotel in New York verschickt worden war, weshalb ihn AM in AM47 vom 16. und 17. November beantworten konnte (s. Postlaufzeiten). Als Datierung wird daher der 1. November 1910 angenommen.

Übertragung/Mitarbeit


(Marie Apitz)
(Tim Reichert)


A

Dr P – Wahrscheinlich ist Dr. gemeint, der Arzt, der bereits während der Tobelbader Zeit in der Geschichte und eine Rolle spielte, s. AM25 vom 24. August 1910. Siehe auch WG18 vom 25. Juli 1910.

B

in der Zeitung – Die Nachricht, dass als Gastdirigent an die Wiener Oper zurückkehren würde, wurde zuerst in der österreichischen Presse publik gemacht und dann von Berliner Tageszeitungen aufgegriffen. Vgl. die österreichische , S. 2: „Gestern verlautete gerüchtweise, daß bereits zugesagt habe, alljährlich eine kurze Zeit an der Wiener Hofoper zu dirigieren“ sowie , S. 3: „Wien, 31. Oktober. In hiesigen Künstlerkreisen wurde heute die Nachricht verbreitet, daß , und zwar als Gastdirigent wieder an die Hofoper zurückkehren werde.“

C

Blinddarmreitzung – Da sich in den Briefen nichts über eine Blinddarmreizung finden lässt, muss persönlich bei einem Treffen davon erfahren haben. In WG74 vom 17. oder 18. September 1910 taucht Blinddarm als Notiz ohne Kontext auf und bezieht sich möglicherweise darauf. So musste entweder von während seines Aufenthalts in München zur Uraufführung der oder direkt von bei seinem Wien-Besuch davon erfahren haben. Siehe auch WG72 vom 13. September 1910 an : Alma elend.

D

Lola Be[e]th – österreichische Opernsängerin, unter anderem unter Leitung an der Wiener Hofoper tätig.